Jedes Jahr kommt dieser Anruf.
Ein Anruf von einer Freundin, mit der ich sonst eigentlich nicht so viel telefoniere, weil wir uns eher Nachrichten schreiben. Ein Anruf, zu einer Zeit, zu der mensch nicht unbedingt einfach mal zum Plaudern anruft. Ich sitze spät nachts im Zug, ich habe verschmierte Hände, weil ich gerade mein Fahrrad reparieren oder sitze mit anderen in einer Kneipe. Meine Freundin, die anruft ist auch Mutter, sie ist in meinem Alter oder deutlich jünger.
Auch diesmal war ich erst kurz irritiert. Aber wenn mich dann meine Freundin mit zittriger Stimme fragt, ob ich kurz Zeit habe, weiß ich worum es geht. Meine Freundin ist schwanger und will es nicht sein.
Das Thema ist immer noch so ein riesiges Tabu in dieser Gesellschaft, dass ich seit längerem offen darüber rede ist eine Ausnahme, eine Ausnahme, die mich zur Ansprechpartnerin macht. Als ich selbst in der Situation war, von einer unerwarteten Schwangerschaft überrascht zu werden, war ich so froh, eine Freundin zu kennen, die selbst abgetrieben hatte mit der ich darüber reden konnte. Solange Schwangerschaftsabbrüche tabuisiert und stigmatisiert werden, bin ich froh für andere diese Freundin sein zu können.
Meine Freundin sagt, sie traut sich nicht online nach Beratungsstellen vor Ort zu suchen, aus Angst mit Fotomontagen von blutigen Babies konfrontiert zu werden. Wir beide wissen, dass befruchtete Zellen nach 6 Wochen nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit einem Baby haben, aber ich kann zu gut verstehen, dass sie sich gerade jetzt nicht irgendwelchen kruden manipulativen Inhalte geben will. Ich rate ihr direkt Pro Familia zu kontaktieren und biete an, für sie zu suchen und gegebenenfalls auch gleich einen Termin auszumachen. Es ist der Samstag des langen Pfingstwochenendes, was heißt, dass sie drei Tage warten muss, drei Tage voll der falschen Hormone, mit Übelkeit, mit einer sich entwickelnden Schwangerschaft, die sie nicht möchte.
Und es ist immer noch Corona-Pandemie, wir wissen nicht, wie Beratungen in ihrem Bundesland gehandhabt werden, ob ihre Ärztin Abbrüche durchführt, ob sie sich eine andere Ärztin suchen muss, ob die neue Patientinnen aufnimmt.
Selbst ohne Feiertage und Krisen muss mensch oft ein paar Tage auf das Beratungsgespräch warten, das verpflichtend ist, weil Menschen mit Uterus, weil Frauen in diesem Land in diesem Jahr immer noch nicht alleine über ihren Körper entscheiden dürfen. Und dann ist eine himmelschreiend bevormundende Frist von drei Tagen zwischen Beratungsgespräch und Abbruch vorgeschrieben, weil selbst wenn eine Frau eine Entscheidung getroffen hat, gilt diese Entscheidung nicht so wirklich. Oder der Gesetzgeber wollte Frauen, die sich gegen eine Schwangerschaft entscheiden, einfach noch ein paar Tage lang quälen.
Jeder dieser zu erwartenden Tage macht eine medikamentöse Abtreibung, die laut WHO in den ersten 9 Wochen deutlich einfacher und komplikationsfreier ist, unrealistischer.
Also muss sich meine Freundin wahrscheinlich unter Narkose setzen lassen, muss einen operativen Eingriff überstehen, um wieder die Selbstbestimmung über ihren Körper zu erlangen.
Ich muss meine Wut in Schach halten, denn gerade geht es nicht um meine Gefühle, es geht nicht darum, wie wir diese menschenverachtenden Gesetze endlich abschaffen können, es geht darum wie meine Freundin durch diese Situation kommt. Wie ihr beigestanden wird, wie sie sich fühlt, jetzt, während des Abbruchs und danach. Davon hängt maßgeblich ab, ob sie irgendwann darauf als schwierige Zeit und unschöne Erfahrung zurückblicken kann oder ob all der Druck, der direkt und indirekt auf sie ausgeübt wird, sie traumatisiert.
Also erzähle ich von meiner Erfahrung, von meinen Gefühlen vor und nach der Entscheidung, ich gehe mit ihr alle Schritte durch und versuche alle Fragen so gut ich kann zu beantworten. Ich erzähle, dass Abtreibungen innerhalb der ersten Wochen früher schlicht als “Blutungsregelung” galten und erinnere sie daran, dass sie nicht allein ist. Jede dritte Frau entscheidet sich im Laufe ihres Lebens gegen eine Schwangerschaft. Sie spricht davon, wie schlecht sie sich fühlt, dass ihr “so etwas” passiert ist und ich betone wieder und wieder, dass es nicht ihre Schuld ist, etwas, dass ich erst lange nach meiner eigenen Abtreibung verstanden habe. Die Selbst-Vorwürfe “Wie konnte mir das passieren?!” sind nichts anderes als der internalisierte Misogynismus dieser patriarchalen Gesellschaft, in der ungewollte Schwangerschaften nur verantwortungslosen zu jungen Frauen passieren und natürlich nie irgendwas mit dem beteiligten Mann zu tun haben.
Ich rate ihr, sich abzulenken, mit Serien oder auch einem Drink. Oder mehreren. Wenn ich das Gefühl habe, das geht und hilft vielleicht scherze ich, dass das die einzige Schwangerschaft sei, in der sie hemmungslos trinken könne.
Ich möchte selbst trinken. Es ist nicht auszuhalten.
Seit über 100 Jahren kämpfen Frauen in Deutschland für das Recht auf sichere und legale Abtreibungen. Ich will, dass dieser Kampf ein Ende nimmt.
Ich will zur letzten Generation gehören, die diesen Kampf kämpfen muss. Für mich und für all meine Freund:innen.
Ja, das stimmt alles. Es ist ein Tabu und allein das sorgt schon für Stigmatisierung und Gewissenskonflikte. Profamile, so erläuterte mir meine Profamilia-Ärztin damals, hieße nicht umsonst Pro-Familia. Sie riet mir von der Abtreibung ab. Die Wartezeit änderte nichts an meinem Entschluss. Ich blieb ich. Auf mein Anliegen, den Abbruch durch eine GynäkolgIN durchführen zu lassen, behauptete meine langjährige Profamilia-Ärztin, solche Ärztinnen gäbe es nicht. Das solle ich mir genau überlegen, warum Frauen keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen würden. So geschehen in Frankfurt am Main 1990.
Das ist eine schreckliche Erfahrung und es tut mir so leid, dass Dir das passiert ist.
Ich hatte zum Glück eine wirklich richtig gute Erfahrung mit ProFamilia und kenne andere Frauen, die sich dort auch gut aufgehoben und wirklich neutral beraten gefühlt haben. Viele ProFamilia Mitglieder sind sehr aktiv im Kampf gegen $218 und §219, ich hoffe, dass Kommentare, wie Du sie Dir anhören musstest einer dunklen Vergangenheit angehören!