In einer Stunde fängt eine grüne Sitzung an, zu der ich eigentlich gehen wollte. Ich sitze im Büro, und überlege mal wieder, ob es sich lohnt noch durch die Dunkelheit in die Geschäftsstelle zu radeln, oder ob ich nicht doch einfach nach Hause zu Mini radeln soll.
Während ich überlege, fällt mir ein, dass es ja immer noch Montag ist. Also schreibe ich jetzt schnell einen Montagspost, fahr dann zu den Grünen und dann schnell zu Mini.
Nach letzter Woche frage ich mich mal wieder, mit welcher Rechtfertigung ich eigentlich über die Banalität meines Alltags schreiben kann. Dann denke ich an Rosa Luxemburg: “Sieh, daß du Mensch bleibst. Mensch sein ist von allem die Hauptsache. Und das heißt fest und klar und heiter sein, ja heiter, trotz alledem.”
Die rechtsradikalen Morde in Hanau haben mich zutiefst erschüttert, ich war den ganzen Tag sprachlos, zwischen Wut und Trauer. Und dann las ich diese eine Analyse, diesen einen Satz “Sie sehen Menschen mit dunklerer Haut und schwarzen Haaren als minderwertig an und als Gefahr.” Ich bin auf dem Sessel zusammengebrochen. Dunkle Haut und schwarze Haare. Das ist mein Kind. MEIN KIND!!!
Ich könnte nicht schärfer verurteilen, was in Hanau passiert ist, all die rechten Anschläge, die sich seit Jahrzehnten wiederholen, scheinbar folgenlos. Es gibt nichts, was diese Morde schlimmer machen könnte. Ich fühle den Schmerz, aber meine Reaktion passiert zumindest auch noch in Teilen in meinem Kopf.
Wenn es um mein Kind geht, fehlen mir die Worte. Die Angst, dass mein Kind zum Ziel dieses rassistischen, faschistischen Hasses werden kann, ja statistisch gesehen, werden wird, nimmt mir die Luft zum Atmen, zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Der allerschlimmste Alptraum, der einfach nicht wahr werden darf.
Ich saß schluchzend zuhause und wollte Mini am liebsten sofort aus der Kita abholen und für immer festhalten. Aber erstens hilft ihm das nicht und zweitens brauche ich meine zwei Hände, um alles menschenmögliche zu tun, damit alle Menschen, meine Freund*innen, mein Kind in diesem Land ohne Angst leben können.
Ich dachte, die Mahnwache am Brandenburger Tor würde helfen, mit der Ohnmacht nach diesem Tag ein bisschen besser klar zu kommen. Aber die gespenstische Stille trotz hunderter Menschen hat mich irritiert. Einerseits fühlte sich die Stille, die Sprachlosigkeit so falsch an und andererseits hatte ich ein ungutes Deja-Vu. Ich war neun, als ich mit meinen Eltern in München Teil einer Lichterkette war, nach dem Anschlag in Solingen. Vor 27 Jahren!
Fast drei Jahrzehnte später wegen eines zu ähnlichen Anlasses zu einer solchen Mahnwache zusammen zu kommen fühlte sich eher zynisch als beruhigend an.
Damals endete unser Familienname noch auf -ic und dass was heute zumindest in einigen Kreisen als Alltagsrassismus bekannt war, war in Teilen auch unser Alltag. In Teilen, denn äußerlich bin ich schon immer als Kartoffel durchgegangen.
Wie soll ich Hoffnung haben, dass mein Kind nicht in 30 Jahren noch immer noch solche Mahnwachen erleben muss?
Und doch: Mensch bleiben. Fest und klar und heiter. Denn die Nazis, die Faschist*innen, die neuen und alten, sie werden unsere Angst nicht kriegen. Ich werde nicht zulassen, dass sie unser Leben mit ihrem Hass vergiften. Mini soll so fest und klar und heiter aufwachsen, wie es nur geht, um mit einem Herzen voller Liebe und einem klaren Kopf für eine offene, bunte Gesellschaft einstehen können.
Nach der Mahnwache bin ich zur Sitzung meiner LAG Digitales gefahren. Business as usual fühlte sich absurd an. Aber dann haben wir Anträge besprochen, gegen die potentiell rassistische Praxis des “Predictive Policing”, bei der auf Basis statistischer Daten bestimmte Gebiete strenger überwacht werden, was nachweislich zur verstärkten Überwachung z.B. farbiger Menschen führen kann. Wir haben darüber gesprochen, wie KI in der Verwaltung diskriminierungsfrei gestaltet werden kann, um in dieser Stadt allen die gleichen Chancen seitens staatlicher Stellen zu garantieren. Und wie haben unsere Delegierten für den Landesparteitag gewählt, die darüber bestimmen werden, wer für die Grünen in das Berliner Abgeordnetenhaus und in den Bundestag zieht. Starke Antifaschist*innen hoffentlich.
Spät am Abend bin ich wieder nach Hause gekommen, habe mein schlafendes Kind geküsst und mit dem Herzensmensch noch Maybrit Illner geguckt. Da saßen zwei weitere Herzenmenschen: Meine kluge Freundin Kübra und die seit Jahrzehnten standfeste Claudia Roth. Diese beiden Frauen für unsere pluralistische Demokratie einstehen zu sehen, hat mir wieder ein bisschen Hoffnung gegeben.
Und nur mit Hoffnung, mit der Vorstellung einer besseren Welt ohne Nazis, ohne Faschismus, ohne Rassismus, Sexismus lässt es sich doch Mensch bleiben, oder?
❤
Danke!