Dieser Beitrag erschien am 05. Januar 2021 im Tagesspiegel.
Eine Schwangere wird von ihrem Arbeitgeber genötigt, täglich im Großraumbüro zu erscheinen, obwohl dort ein tödliches Virus grassiert. Was wir 2019 noch für den Plot eines dystopischen Hollywood-Films gehalten hätten, ist zu Beginn des neuen Jahres 2021 Alltag für eine junge Berufstätige in einer Konzertagentur im Süden Deutschlands.
Es ist nur eine von vielen Geschichten über Arbeitgeber, die grob fahrlässig mit der Pandemie umgehen. Weil niemand sie daran hindert.
Jeden Tag sterben allein in Deutschland hunderte Menschen an Infektionen mit dem Coronavirus, Krematorien müssen Leichen auslagern, Krankenhäuser arbeiten im Notfallbetrieb, das Gesundheitssystem ist kurz vor dem Kollaps.
Pflegepersonal wurde vielerorts bereits zu kräftezehrenden Zwölf-Stunden- Schichten verpflichtet und muss teilweise trotz eigener Infektion weiter arbeiten, um die vielen schwerkranken Infizierten zu versorgen.
Wir alle kennen die täglichen Horrormeldungen.
Es ist deshalb natürlich das einzig Richtige, alles zu tun, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern, um weitere Infektionen, weitere chronisch Kranke und weitere Tote zu verhindern. Die meisten von uns haben eher einsame Weihnachten hinter uns. Ich kenne mehrere Babies, die noch nie in den Armen ihrer Großeltern lagen, weil das für beide im vergangenen Jahr ein zu großes Risiko gewesen wäre.
Angesichts der Infektionszahlen stehen die meisten Eltern hinter verlängerten Schul- und Kita-Schließungen auch, wenn kaum eine Mutter oder ein Vater derzeit weiß, wie die nächsten Wochen laufen sollen. Kontakte zu reduzieren, wo immer es nur geht, ist in der aktuellen Situation schlicht lebensnotwendig.
Natürlich gibt es auch in dieser selbstverschuldeten und jetzt erbarmungslosen, wütenden zweiten Welle der Pandemie viele Menschen, auf deren Berufstätigkeit wir alle angewiesen sind: Ärzt:innen und Pflegepersonal, Polizei und Feuerwehr, aber auch alle die, die unsere Supermärkte befüllen und unsere Einkäufe kassieren, Post und Pakete ausliefern.Neben ihrer Systemrelevanz haben diese Jobs noch etwas gemeinsam: Keiner davon lässt sich in einem Büro ausüben.
Mehr als 50 Prozent aller berufstätigen Deutschen hingegen gehen „Bürojobs“ nach. Trotzdem sehe ich jeden Tag über leerstehenden Restaurants und geschlossenen Friseursalons Menschen in Büroräumen, die dort auf ihre Bildschirme starren. Manche sitzen sogar in kleinen Besprechungsräumen und unterhalten sich mit Kolleg:innen – ohne Maske.
Ein Bußgeld für Unternehmen, die ohne Not auf Präsenzarbeit bestehen, existiert nicht
In Berlin kostet es bis zu 10000 Euro Bußgeld, wenn ein Restaurant unerlaubt öffnet. Das Bußgeld für Unternehmen, die ohne jede Notwendigkeit auf Präsenzarbeit bestehen, beträgt 0 Euro, es existiert schlicht nicht.
In der letzten Ministerpräsident:innenkonferenz wurde beschlossen, dass es ausreichend sei, Arbeitgeber:innen „dringend zu bitten“, Homeoffice zu ermöglichen und auch für die heutige Sitzung mit den Länderchef:innen ist kaum mit einer Verschärfung dieser Nicht-Regelung zu rechnen.
Dabei wäre eine klare, verbindliche Ansage so wichtig: Macht die Büros zu!
Bei teilweise mehr als 500 täglichen Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner:innen ist längst nicht mehr nachvollziehbar, wer sich wo angesteckt hat.
Dutzende Nachrichten, wonach es in Büros zu Corona-Ausbrüchen kam
Und doch kenne ich allein mindestens drei Menschen, die sich sicher im Büro angesteckt haben. Nachdem ich bei Twitter um Erfahrungsberichte gebeten habe, erreichten mich dutzende Nachrichten von Menschen, in deren Büros es Corona-Ausbrüche gab. Weil Vorgesetzte immer noch auf Anwesenheit aus Prinzip bestehen und selbst bei mehreren positiven Corona-Tests in der Belegschaft es als nicht erwiesen sehen wollen, dass ihre Arbeitsräume Infektionsherde sind.
Ein großer deutscher Sandalenhersteller will die neu bezogenen Räume nicht einfach leer stehen lassen, ein Süßwarenhersteller erklärt selbst die Mitarbeiter:innen im Marketing zu systemrelevanten Berufsgruppen, die am Arbeitsplatz erscheinen müssen, ein großer Versicherer sieht Corona nicht als Grund die geplante Umstellung von Einzel- auf Großraumbüros zu verschieben.
Eine Firma weigert sich, Geld für einen VPN-Zugang auszugeben
Bei voller Präsenz. Es klingt aberwitzig, was viele Angestellte in Deutschland derzeit erleben. Während ein Unternehmen es geschafft hat an einem Wochenende im März 1200 Laptops für das Arbeiten im Homeoffice aufzurüsten, weigert sich der Geschäftsführer einer anderen Firma zehn Euro pro Person für einen VPN Zugang auszugeben. Im Büro gibt es schließlich eine gesicherte Internetverbindung.
Die Nachricht einer Universitätsmitarbeiterin zeigt deutlich, dass es fast nie an den Umständen, sondern einzig am Willen der Vorgesetzten liegt, ob das Arbeiten von Zuhause ermöglicht wird oder nicht: „Als die Kanzlerin der einen Uni im März per Mail alle aufforderte, von zuhause zu arbeiten, hat der Kanzler der anderen Uni Beschäftigungsbestätigungen ausstellen lassen, damit alle brav weiter ins Büro kommen.“
Architekturbüros, Design-Agenturen und Sparkassen halten den Aufwand für Dienst-Laptops für zu hoch und die Möglichkeit die Arbeitsleistung zu kontrollieren für zu gering und verweigern deshalb ihren Angestellten Homeoffice.
Natürlich gibt es auch positive Beispiele. Arbeitgeber:innen, die nicht nur verbindlich Homeoffice anordnen, sondern neben Laptops auch Bürostühle und -tische auf Wunsch nach Hause liefern. Unternehmen, die ihren mitarbeitenden Eltern flexible Arbeitszeiten oder sogar bezahlte Auszeiten zur Kinderbetreuung ermöglichen.
Die meisten größeren Konzerne und Unternehmen aus der IT-Branche haben seit März ihre Büros geschlossen und die Arbeit im Homeoffice zur Regel gemacht. Sie zeigen, dass es ohne größere Probleme möglich ist, Produktivität und Infektionsschutz gleichzeitig hoch zu halten. Belohnt werden sie mit der Loyalität ihrer Belegschaft.
Sie stellen die physische Anwesenheit ihrer Beschäftigten über die gesetzliche Fürsorgepflicht
Ich habe mehrere hundert Nachrichten bekommen von Menschen, die im Homeoffice einen im doppelten Sinne sicheren Arbeitsplatz haben. Es sind vor allem Mittelständler und erschreckend viele Unternehmen der öffentlichen Hand, die auf dem Erscheinen der Angestellten im Büro bestehen, auch wenn weder Aufgaben noch die Verfügbarkeit von bestimmten Systemen das erforderlich machen.
Sie stellen die physische Anwesenheit ihrer Mitarbeitenden über ihre gesetzliche Fürsorgepflicht für eben jene Menschen. Dazu kommt, dass einige Angestellte offenbar ihre Präferenz, im Büro zu arbeiten und dort mit Kolleg:innen Kaffee zu trinken, über den allgemeinen Gesundheitsschutz stellen.
So erklärt sich, warum nur 14 Prozent aller Erwerbstätigen im November überwiegend im Homeoffice ihrem Beruf nachgingen, wie eine repräsentative Befragung der Hans-Böckler-Stiftung ergab.
Wie aber lässt es sich politisch erklären, rechtfertigen, dass das kulturelle Leben unserer Gesellschaft komplett aussetzen muss, soziale Kontakte de facto nur noch als Spaziergang im Freien sanktionslos möglich sind, dass gerade Kinder auf den größten Teil dessen, was Kindheit ausmacht, verzichten müssen, aber Arbeitgeber:innen in Büros weiterhin machen können, was sie wollen? Es wäre dringend notwendig, Büros genauso verbindlich zu schließen wie Restaurants und Kinos.
Mit ebenso verbindlichen Sanktionen für uneinsichtige Arbeitgeber:innen sowie klar kommunizierten Kündigungsschutz samt Lohnfortzahlung, damit Arbeitnehmer:innen nicht mehr gezwungen werden können, zwischen Gesundheitsschutz und Lebensunterhalt entscheiden zu müssen. Theoretisch sind Angestellte schon heute vor Kündigung geschützt, wenn das Unternehmen keinen ausreichenden Infektionsschutz getroffen hat.
Doch solange die Beweispflicht beim Einzelnen und nicht bei den Arbeitgeber:innen liegt, bleibt auch diese Vorgabe wirkungslos.
Natürlich kann und muss es sinnvolle Ausnahmen geben. Zum Beispiel für alle die, die zuhause keine ausreichende Internetverbindung haben (ein anderes deutsches Politikversagen).
Sollten die Zahlen drastisch sinken, könnten Büros unter Einhaltung strenger Hygienekonzepte und Beschränkung der Anwesenden, analog zum Einzelhandel, für einen Teil der Belegschaft öffnen.